Freyja - Baumweltensaga II
I. Albtraum
Die schwarze Wolkenwand am Horizont war nicht das Schlimme. Das wirklich Entmutigende waren die drei Tornadotrichter, die vom Himmel bis hinunter aufs Wasser reichten und deren Schlünde über das Meer fegten. Zwei gingen rechts und links an ihrem Schiff vorbei. Der dritte Trichter stürmte direkt auf das Schiff zu. Sie schrie auch diesmal kurz auf, bevor diese Mischung aus Gischt und entfesselter Kraft sie völlig einhüllte und samt Schiff mit in die Höhe riss. Alles versank in undurchdringlichem Dunkel. Sie spürte nur, wie sie hochgehoben und herumgeschleudert wurde. Eine Urkraft hatte sie erfasst, der sie nichts entgegenzusetzen hatte: größer als sie selbst und ihr unsterbliches Leben. Man erzählte sich in den Nordlanden von einem Mädchen, die in ihrem Wohnwagen von einem Tornado erfasst wurde und in einem Zauberland landete. Wenn ich doch nur in diesem Zauberland aufwachte, ging es Freyja durch den Kopf. Es war, als beobachtete sie sich selbst. Als sie landete, wusste sie sofort, sie war nicht im Land des Strohmanns und sie würde keine Smaragdenstadt finden. Sie wollte die Hoffnung in einem Zauberland zu sein, noch nicht begraben. Einen Moment lang versuchte sie, sich eine lachende Katze, ein sprechendes Porzellanmädchen und die ewigen Brüder Tweedledee und Tweedledum vorzustellen. Doch das war eine andere Geschichte. Ihre Fantasie schützte Freyja nicht vor der Realität. Immerhin spürte sie nichts von der Fallhöhe, als sie hinunterstürzte, bemerkte aber, dass der Sturz tief gewesen sein musste.
Als sie zu sich kam, war sie allein und fühlte einen großen feuchten Raum. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Freyja setzte sich in einer finsteren Halle auf. Die einzige Lichtquelle waren grün phosphoreszierende Moose auf den feuchten Steinwänden. Freyja fror. Erinnerungen an die Smaragdenstadt, aber auch einen Hutmacher aus jener anderen Zauberlegende glommen mittlerweile noch schwächer als das Moos auf den Steinen. Anders als das Moos verloschen sie schließlich ganz. Dort, wo Freyja sich befand, wies ihr kein weißes Kaninchen den Weg. Dafür sah sie immer mehr Details ihrer Umgebung. Freyja bemerkte einen Stein in der Mitte des Raumes auf dem etwas stand. Sie bewegte sich darauf zu und sah auf einem Altar einen Kelch stehen, in dem eine grünschimmernde Flüssigkeit schwamm. Gut, dachte Freyja, grün glommen hier fast alles, keine Smaragde, aber Moos an den Wänden. Neben dem Pokal sah Freyja eine Kette aus Tigeraugensteinen, die nicht grün schimmerte, sondern braun. Sie griff nach dem Schmuckstück. Doch die Kette verrückte ihren Standort, sobald Freyja in ihre Nähe kam. Sie versuchte es erneut, und noch einmal.
Die Kette reagiert auf meine Hand, stellte Freyja fest und überlegte, ob sie erstaunt war. War sie nicht. Dann vielleicht der Pokal. Wenn sie ihn zu fassen bekäme, könnte sie möglicherweise die Flüssigkeit identifizieren. Ihre Finger näherten sich dem Gefäß. Ein Schrei zerriss die lautlose Dunkelheit. Freyja zuckte zusammen, ihre Finger schnellten zurück. In dem abebbenden Schrei erklang eine Stimme aus dem Nirgendwo der Finsternis: „Koste vom verbotenen Wissen!“
Wovon sollte sie kosten? Ihr Blick fiel auf den Pokal. Der schimmernde Inhalt. Sie mochte Grün. Freyjas Hand näherte sich dem Pokal. Doch sobald ihre Hand in die Nähe des Gefäßes kam, erklang dieser Schrei, immer wieder. Unmöglich, ihn zu ignorieren.
Die Hand zog sich zurück und umgehend erging der Befehl erneut. Grotesk! Sollte sie vielleicht Moos essen? Es reichte! Freyja wollte sich dem Stein mit dem Pokal ganz entziehen, was sich aber als schwierig erwies. Es war, als hielte sie ein Magnetfeld fest und verhinderte ihren Rückzug. Der Schrei wehrte jede Annäherung an den Pokal ab, und der Befehl konterkarierte die Gemengelage als unauflösbares Knäuel von irgendwas. Freyja versuchte eine neue Strategie. Sie legte sich flach auf den Bauch und kroch mühsam rückwärts über den feuchten Boden. Allerdings legte sich, als sie sich vom Stein entfernte, ein Druck auf ihre Brust und ließ sie schwerer atmen als nach einem 2000-Meter-Lauf über die Fjordfelsen. Sie gab auf, richtete sich auf und bewegte sich weder vor noch zurück. Sofort ließ der Druck nach.
Wie konnte es sein, dass sie nicht einfach aufstehen und den dunklen Raum durchqueren konnte? Da erkannte sie die Umrisse einer Tür zwischen dem phosphoreszierenden Moos. Jetzt wusste sie, wohin sie gehen sollte. Und nichts hinderte sie daran. Doch als sie kurz davor stand, sprach die Stimme erneut zu ihr: „Koste von dem verbotenen Wissen!“ Freyja drehte sich um und blickte zu dem Kelch, der nicht mehr als eine vage Silhouette vor finsterem Hintergrund war. Verbotenes Wissen kosten wäre ihr ein Vergnügen. Doch ein Spielball für wen auch immer, zu sein, dem widersetzte sie sich. Befehle nahm sie schon gar nicht entgegen. Sie ging weiter auf die Tür zu. Die Stimme meldete sich nicht mehr.
Dafür spürte sie die Anwesenheit von Etwas hinter ihrem Rücken. Sie drehte sich erneut um. Immerhin hatten ihre Augen sich so an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie über Altar und Kelch hinaussehen konnte.
Etwas saß in der anderen Ecke des Raumes und fixierte sie mit kleinen schwarzen Punktaugen. Um die Augen herum waberte eine quaddelige Masse.
Ist das schon die ganze Zeit da gewesen?, fragte sich Freyja, und hat das etwas mit dem verbotenen Wissen zu tun?
Es dauerte eine Weile, bis sie die Erscheinung mit den Gegebenheiten des Raumes vereinbaren und sich eingestehen konnte, dass das, was sie da sah, so real war, wie ein Traum eben reale Wesen kreieren konnte.
Freyja wog ihre Situation ab. Gehen? Oder schauen, wer oder was da war? Wenig überraschend siegte ihre Neugierde. Sie drehte sich um und konnte nun mühelos den Raum vermessen, umging den Stein mit dem Pokal und näherte sich dem weißen quallenförmigen Ding. Punktaugen stachen in ihr Innerstes. Nun erkannte Freyja, mit wem sie es hier zu tun hatte: mit einem Riesenkraken, dessen Tentakel unruhig und ziellos über den feuchten Boden glitten. „Ich kann dir ein Führer sein!“, das war eine andere Stimme als die, die aus dem Kelch zu ihr gesprochen hatte. Es war der Riesenkrake, der mit ihr redete.
Er wiederholte den Satz mit einer sonoren Stimme, die eines Skalden würdig gewesen wäre und vertrauenswürdig erschienen. Im selben Maße hatte die andere schrill und abstoßend ihr verbotenes Wissen angepriesen. Doch ohne Vorwarnung erweiterte der Krake sein Repertoire, und Freyjas Arglosigkeit verpuffte: „Geh fort! Sonst erwarten euch Unglück und Leid! Er ist nicht der, für den du ihn hältst. Du suchst jemand anderen!“
Super, das war der Spruch des Wahrsagers auf dem Basar im Land der Glutkobolde gewesen. Seit Freyja dem gefolgt war, wiederholte er sich Nacht für Nacht aus dem nicht vorhandenen Mund eines Kraken. Im Ergebnis hatten sich damals zwei Gedanken verschränkt. Geh fort! Finde deinen Weg
allein! Klar, sobald sie jemand warnte, sich in Liebesdingen zu verrennen, folgte sie der Aufforderung aus lauter Angst vor…? Genau, sie wusste es nicht einmal. Aber sie hatte sofort getan, was der Wahrsager geraten hatte und der Krake seitdem Nacht für Nacht wiederholte: zurück aufs Schiff, Segel gesetzt und zurück in die Nordlande gereist, mit einer prallvollen Schiffsladung Güter und Edelsteinen. Sie war erfolgreich in ihr altes Leben zurückgekehrt. Zumindest äußerlich. Innerlich galt es, Liebeskummer auszuhalten. Und warum? Weil es auf einem beliebigen Basar im Land der Glutkobolde, inmitten des Gewirrs aus 1000 Ständen, einen Stand mit Edelsteinen gab, hinter dessen hölzernen Ladentheke sie weizenblondes Haar begrüßt hatte, darunter ein Auge, so blau wie der Ozean.
Sie hatte mit ihm nur mit Bernsteinen handeln wollen und sich am nächsten Abend in seinem Haus wieder gefunden. Auch in ihrem Traum gab es immer wieder diese eine Sequenz, wie sie an ihrem ersten gemeinsamen Abend auf dem Dach des Hauses saßen. Freyja schüttelte den Kopf. Diese Erinnerungen brachten sie nicht weiter. Sie schaute auf den Kraken, der genauso vorhersehbar und fast unmerklich nickte. Freyjas Augen fixierten die Erscheinung, als starrte ein Kaninchen in die Augen einer Schlange. Sie bemerkte, wie die Krakenarme über den Boden schlingerten, an ihrem Körper emporkletterten, sie hochhoben, herumschleuderten. In dem Moment, bevor sie ab hob, griff sie nach der Tigeraugenkette.
Sie kreiselte durch kalte dunkle Luft und drückte die Kette fest an sich, im nächsten Moment befand sie sich auf ihrem Schiff, das sich mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit über das Wasser bewegte, rechts und links vor dem Bug Wasserfontänen aufwerfend und schäumendes Kielwasser hinter sich herziehend. So rasch, wie das Land hinter ihr immer kleiner wurde, wuchs die Wasserwüste um sie herum an.
In diesem Moment erwachte Freyja schweißgebadet wie jeden Morgen […]