Bei Überlegungen darüber, was Mythen und Mythologien eigentlich sind, stoßen wir schnell in die Grenzbereiche von Realität vor, ohne sie jedoch ganz zu verlassen. Schauen wir uns ein paar Definitionen an, um das Gebiet auszuleuchten. „Echter Mythos weist auf Wirklichkeit hin, will bedeuten und stellt die Gegebenheiten in Natur, Gesellschaft und Individuum in bildhaft-symbolischer Form dar. […] Märchen ist bedeutungslos gewordener Mythos, der seine Funktion als Ausdruck gesellschaftlichen Bewusstseins verloren hat.“1 Über diese Aussage zwischen gesellschaftlichem Bewusstsein und Mythos ließe sich trefflich streiten. Andererseits ist unbestreitbar, dass Geschichten und Legenden immer auch Zeugnisse des Zeitgeistes sind, in der sie tradiert werden. Ein anderes Autorenduo definiert Mythos folgendermaßen: „Mythen sind Geschichten über Götter und Themen von universeller Bedeutung, von der Schöpfung bis zum Tod und darüber hinaus.“2 Hier haben wir den Bezug auf universelle Themen unseres Lebens. Der Umgang mit diesen Themen wird häufig von gesellschaftlichen Realitäten geprägt, wie uns die über die Zeiten sich veränderten Hochzeitsbräuche und Bestattungsrituale deutlich machen, um zwei gegensätzliche Eckpunkte zu nennen. An dieser Stelle fällt auf, dass, obwohl häufig gerade weiblichen Gottheiten die Zuständigkeit von Schöpfung (Geburt und Fruchtbarkeit) und dessen Ende (Tod und Zerstörung) obliegt, ist die weibliche Form von „Götter“ bei diesem Autorenduo eine Fehlanzeige. Für mich sind Mythen immer auch bedeutende Teile des Unbewussten, die dem Bewusstsein einige Selbstverständlichkeiten diktieren, von denen der Mensch oftmals gar nicht mehr weiß, woher diese Annahmen eigentlich kommen.
Über diese Brücke, gebaut aus Realität und Unbewusstem, betreten wir jetzt den Bereich der Aussage eines Mythos im Kontext seiner Überlieferungsgeschichte. Das erste Buch der Baumweltensaga ist der mythologischen Figur der Lilith gewidmet, die im Unbewussten mancher Männer arg rumspuken muss. Wie kam das? Lilith belebt die sumerische Tradition als temperamentvolle, matriarchale Gottheit. Sie wirkt im Gilgamesch Epos als Gefährtin des Windgottes Lila. Später wird sie in den mosaischen Religionen zur erste Frau Adams, die Gleichberechtigung lebt. Doch als sie ihren Mann verlässt, wird sie verflucht und verkommt am Schluss ihrer Rezeptionsgeschichte zur kinderfressenden Dämonin. Wie ist eine solche Entwicklung möglich? Von einer angebeteten Bala’at, einer Heiligen Herrin der Phönizierinnen, zum Alptraum jedes normal fühlenden und denkenden Menschen, die ihre eigenen Kinder frisst und andere krankmacht? Stichwort: ein patriarchales Unterbewusstsein, das die Stärke von Frauen fürchtet, heiratet eine Realität, die von eben jenem Unterbewusstsein geprägt ist. Ein Duo infernale, das nicht nur Lilith mit in den Abgrund seiner Ängste und Verblendungen reißt, in den es selber schon gefallen war. Doch Hilfe naht. Die Fantasie kann Brücken über alle Abgründe bauen. Sie kann tiefen Bewusstseinsebenen gut begegnen, dunkle Flecke ausleuchten und sie mit bunten Bildern versehen. Frauen müssen sich selbst neu imaginieren, sagte Susan Sonntag einst. Dann geben wir Lilith jetzt jene Eigenschaft wieder, die allen guten Wesen innewohnt: sie würde nichts tun, was anderen schadet.